Asunción: die Geschichte von Tomás Recalde Marquez und die CCT-Initiative

Als ich Tomás Recalde Marquez 1991 besuchte, lebte er in einer primitiven Bude am Stadtrand von Asunción in Paraguay. Dort betrieb er mit seiner Frau einen Schreibwarenladen mit einer altertümlichen Fotokopiermaschine. Anlaß ihn zu besuchen war eines unserer ersten Projekte der Entwicklungszusammenarbeit mit Förderung des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Unsere Partnerorganisation vor Ort hieß APUC und war ein Verein sozial motivierter junger Leute in Asunción. Es war ein bescheidenes Projekt. 164 Jugendliche mit meist abgebrochener Schulbildung und ohne Zugang zu einem Beruf wurden handwerklich ausgebildet – gerade hinreichend, um ihnen als Handwerker-Gehilfen eine Chance des Einstiegs in eine geregelte Arbeit zu bieten - oder einer Weiterbildung.

 

Bisher hatten sie sich auf der Straße durchgeschlagen als Autowäscher, Schuhputzer, Parkplatzwächter, Gepäckträger, Zeitungsverkäufer oder Anbieter von allerhand Gebrauchsartikeln bis hin zu einzelnen Zigaretten an den Autofenstern vor roten Ampeln. Viele von ihnen leisteten mit den Straßenjobs zum armseligen Familieneinkommen einen unverzichtbaren Beitrag. Für unsere technischen Ausbildungskurse “CCT” (Cursos de Capacitación Técnica) kamen deshalb nur die Wochenenden in Frage, Auf dem Programm standen Elektroinstallation, Sanitärinstallation und Maurerhandwerk. Eine Schule, das Colegio Campoalto, stellte fürs Theoretische die Klassenzimmer zur Verfügung. Fürs Praktische wurde viel improvisiert – im Keller, in der Garage und ganz hinten auf dem Schulhof.

 

Die Kurse liefen im zweiten Jahr. Aus der Kartei CCT-Absolventen hatte ich wahllos sechs Karten herausgegriffen und erklärt: Die sechs möchte ich sprechen, und zwar allein, und wenn möglich, bei ihnen zuhause. Darunter war Tomás Recalde Marquez. Er hatte den Kurs für Elektroinstallation abgeschlossen, war aber gar kein Jugendlicher, sondern 40 Jahre alt. 20 Prozent der CCT-Teilnehmer waren über 25. Das war nicht geplant. Aber Silvio Mesa, der Geschäftsführer von APUC, hatte mir glaubwürdig versichert, diese Älteren seien hoch motiviert und stabilisierten die Kurse. Daß sie diese Ausbildung brauchen könnten, stehe außer Zweifel.

 

Wie sich zeigte, hatten Silvio und Felix Huerta, der Leiter unseres CCT-Programms, eine glückliche Hand bei der Anwerbung der Lehrer gehabt. Für Sanitärinstallation war Manuel Vera zuständig. Ich hatte den Eindruck, einer Art pädagogischem Genie zu begegnen. Dann war da noch der Ingenieur Perez Mernes von der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft ANDE (Administración Nacional De Electricidad, die wohl seriöseste und bestorganisierte Institution Paraguays). Eigentlich, sagte er mir, habe er sozusagen aus Freundschaft anfangs zugesagt, die CCT hier und da zu beraten. Das habe er aber bald aufgeben wollen. Es habe an nahezu allem gefehlt und er habe auch nicht sehen können, wie denn eine fachliche Systematik in diese Kurse hineinzubringen sei. Erst nach und nach habe er dann die eigentliche “Philosophie” der CCT begriffen. Jetzt sei er hoch motiviert, weiter mitzuarbeiten. Hier bemühe man sich um junge Menschen, die bei ANDE wohl erst gar nicht antreten oder landen würden. Er bewundere den Einsatz und die Geduld der Projektmannschaft, mit denen sie die Kursteilnehmer dazu anhalte, überhaupt ein regelmäßiges Lern- und Arbeitsprogramm durchzustehen. Zwar sei im ersten Jahr ein Drittel der Anfänger abgesprungen, aber die Zahl derer, die durchgehalten hätten bis zur Prüfung, sei doch beachtlich. Alle, die die CCT-Prüfung in Elektroinstallation bestanden hätten, habe er anschließend ins ANDE zur Prüfung für das “Carnet E” geschleppt. (“Carnet E” ist ein offizieller Befähigungsausweis für einfache Hausinstallation. Der Inhaber kann dann aufsteigen zu Carnet D, C und B. Carnet A ist Ingenieuren vorbehalten).

 

Zwar seien alle durchgefallen – bis auf einen. Immerhin. Für ihn sei es ein Voraus-Test gewesen. Jetzt könnten sich die interessierten CCT-Absolventen in einem einmonatigen kostenlosen Kurs bei ANDE auf die Prüfung vorbereiten.
Zu den CCT-Abbrechern und -Durchhaltern habe ich gleich unsere Freunde von APUC befragt. “Diese Jungen haben noch nie irgendetwas regelmäßig gemacht”, lautete die Antwort. Und jetzt jedes Wochenende früh aufstehen und zum CCT! Von den tropischen Temperaturen in Asunción ganz zu schweigen.

 

Bei Tomás Recalde Marquez habe ich auf Anhieb Glück. Es ist vormittags und er ist im Geschäft.
Da steht er also, der Tomás, hinter der Theke, ein etwas rundlicher Mestize mit wachen Augen, die er ebenso konzentriert auf mich heftet wie zwischendurch auf einen Kunden, der den Laden betritt. Der kauft einen Bleistift. Er sei im Geschäft, sagt Tomás, weil seine Frau jetzt vormittags außerhalb arbeite. Er sei nachmittags unterwegs bis in die Nacht, um Häuser zu installieren: Elektroinstallation. Oder wegen Reparaturen. Woher er denn die Aufträge bekomme, will ich wissen. Das sei überhaupt kein Problem: Freunde, Bekannte, das spreche sich rund. Soviel könne er gar nicht machen. Oft rufe er andere vom Kurs an, ob sie mitmachen. Außerdem habe er jetzt einen Kurs beim ANDE belegt, um das Carnet D zu erwerben. Und wenn es so weitergehe, wolle er auch noch C und B machen. Carnet A komme ja nicht infrage. Dafür müsse man Ingenieur sein.

 

Warum er denn nicht gleich zum ANDE gegangen sei, zumal er doch eigentlich viel zu alt sei für die CCT, frage ich weiter. “Wie denn”, starrt Tomás mich verduzt an, “wie hätte ich denn auf die Idee kommen sollen? Ich hatte doch keine Ahnung. Nein, nein, völlig ausgeschlossen. Das ist etwas ganz anderes.”

 

“Was ist anders als im CCT?” frage ich nach. “Bei ANDE? Bei ANDE gibt es nur das Fachliche. Sonst nichts. Das hätte ich niemals ausgehalten. Beim CCT hat man sich wirklich um uns gekümmert. Die haben einem wirklich Mut gemacht. Ich habe einmal gefehlt und schon kam der Osvaldo und fragte, ob ich krank sei. Ich habe mich geschämt. Aber Osvaldo hat mir zugeredet und der Ausbilder hat mir an einem Abend zwei Stunden lang erklärt, was die anderen gemacht hatten. Beim CCT konnte ich auch persönliche Fragen besprechen. Die haben mir wirklich geholfen. Und den anderen auch. Das ist wirklich ganz anders als beim ANDE. Da ging ich hin, auch wenn ich keine Lust hatte, schon aus Freundschaft. Einfach immer hinzugehen, daran habe ich beim beim CCT erst nach und nach gewöhnt. Das ist beim ANDE von Anfang an Voraussetzung.” Für die Lektion, was es heißt, daß Bildung den ganzen Menschen im Blick haben muß, bin ich Tomás Recalde Marquez dankbar.

 

Der technische Unterricht, also die Vermittlung von Wissen und Können, machten vielleicht 20 Prozent des Einsatzes für das Projekt aus, erklärten mir Silvio und Felix. 80 Prozent des Einsatzes bestünden, zumindest im ersten Jahr, in den Bemühungen, die Jungen zum Durchhalten zu motivieren. APUC hatte ein Dutzend Mitglieder des Studentenclubs Ybaté dafür gewinnen können, sich menschlich, freundschaftlich um die Jungen zu kümmern, um jeden persönlich: als Tutoren für die Auszubildenden. Sie machen Sport und Ausflüge mit ihnen. Das schweißt zusammen. Mit dem Tutor sprechen die Jungen über ihre persönlichen Sorgen und der mit ihnen über die richtige Haltung zur Arbeit, über den richtigen Umgang mit anderen, darüber, wie man sich benimmt, usw. Wenn einer beim Kurs fehlt, wird er besucht. Sonst ist er vermutlich weg. Schon um sich die Demütigung zu ersparen, das grundlose Fernbleiben einzugestehen. Außerdem sei für diese Jugendlichen meist nach 14 Tagen die Welt der CCT schon unendlich weit weg. (Beim Problem der Abbrecher war in Asunción von “deserción” die Rede, von Desertieren). Als wirksamstes Mittel, einen “Deserteur” zu den CCT zurückzuholen, hatte es sich bewährt, ihn zu einem Fußballspiel einzuladen.

 

Wie der Zufall es wollte, war in Paraguay damals die deutsche GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) mit dem Aufbau eines öffentlichen Berufsbildungssystems befasst: SNPP - Servicio Nacional de Promoción Profesional). Silvio Mesa kannte den Diplomingenieur Rolf K., Leiter der “Misión Técnica Alemana” in Asunción, Und dieser kannte Silvio und die CCT-Initiative. Er hatte bei der Lehrerauswahl für die CCT mitgewirkt und angeboten, die CCT-Initiative als “Centro colaborador” des SNPP vorzuschlagen. Als wir Herrn K. im Gebäude des SNPP besuchten, erzählte er zunächst von den Erfolgen seiner Arbeit: Er hatte bislang 18 Berufsbilder abgegrenzt, definiert und entsprechende Ausbildungsprogramme entwickelt - nach dem Vorbild des dualen Systems in Deutschland. Dann kam er auf seine Probleme zu sprechen. Das waren vor allem die unglaublich hohen Abbrecherquoten.

 

“Also das, was ich hier mache”, so fasste R.K. schließlich zusammen, “ist ein Industrieprojekt. Was ihr macht, ist ein Sozialprojekt. Ich könnte zugespitzt auch sagen: Wir sind die Schule, ihr der Kindergarten. Aber eigentlich sollte SNPP die Teilnahme bei CCT zur Aufnahmevoraussetzung machen. Die zu uns kommen, wollen zwar gern etwas werden, wissen aber nicht, worauf sie sich einlassen. Wer beim CCT durchgelaufen ist, weiß das, und weiß auch, ob es ihm liegt.” (Hans Thomas)